Oxana. Eine Geschichte zwischen KGB und Mafias Begegnungen mit Irina und Oxana in Kiew

Oxana. Eine Geschichte zwischen KGB und Mafias
Begegnungen mit Irina und Oxana in Kiew
Am 27. August 2009 saß ich in einem der Cafés von Kiew und wartete auf Irina Nikitina und Oxana Gribenko. Nur wegen des Wiedersehens mit diesen zwei Frauen hatte ich dem Flug nach Kiew zugesagt. Offiziell sollte ich einen Vortrag auf einer Konferenz über das Thema „Beratung in einer postmodernen Welt“ halten. Beide Frauen verspäteten sich und ich nahm das Buch „Irina“ in die Hand und las: „Der alte Wladimir Sokolow sah kränklich aus, doch in seinen Augen leuchtete noch das alte Feuer, und man konnte sehen, dass er glücklich war. Er saß mit seiner Frau Pelagea am Kopf des Tisches. Er redete nicht. Vielleicht hatte er nicht genug Kraft oder aber er hatte das Gefühl, er habe genug geredet. Er blickte um sich, als wollte er sagen: „Jetzt seid ihr an der Reihe! Nun sagt ihr Mal was Vernünftiges!“
Ich legte das Buch zur Seite und schwelgte in Erinnerungen.
Mein Leben, meine Tätigkeit in der riesigen Sowjetunion war stark von der Sippe Sokolow beeinflusst gewesen. Mit Irina begann ich mein Maschinenbaustudium in Sibirien.
In der Zwischenzeit hatte sich so viel ereignet, dass ich am liebsten die Vergangenheit vergessen würde. Sieben Jahre kommunistische Gefängnisse und Straflager, Arbeit untertage, Förderung von Uranerz, Anreicherung von Uran, Herstellung von Atombomben, Totenzonen im Ural und Kasachstan, in denen Hunderttausende ums Leben kamen und vieles mehr.
Wer könnte mir die Erinnerungen aus dem Hirn ausradieren? Ich empfand weder Groll noch Hass gegen die Marionetten des sowjetischen Regimes, die uns in den Tod trieben. Es war einfach eine Leere in meinem Herzen.
Ich dachte plötzlich an meine Frau Maria und es wurde mir warm ums Herz. Ich rief sie kurz an, um zu sagen, dass ich gut in Kiew angekommen sei.
Dann wurde ich aus meinen Gedanken mit den Worten gerissen: „Hermann, du?“ Die Frau, die mich ansprach, war Irina Nikitina. „Ja, ich!“ antwortete ich, stand auf und nahm sie in die Arme. Wir konnten uns gar nicht mehr loslassen. Sie weinte schluchzend und meine Tränen konnte ich auch kaum verbergen.
„Eh, ihr zwei! Ich bin auch noch da! Ich möchte Hermann auch drücken!“ Es war Oxana Gribenko. „Ja, ja. Du kommst auch noch an die Reihe!“ Irina wischte sich die Tränen von den Wangen und Augen und entließ mich ganz in die Obhut von Oxana. Diese drückte mich mächtig an sich und flüsterte mir ins Ohr: „Danke, Hermann, für alles!“ Irina konnte schon wieder lächeln und sagte schelmisch: „Drücke ihn nicht zu fest. Er gehört uns nicht. Er hat seine Maria, die er beneidenswert und leidenschaftlich liebt.“ „Ach, schade!“ sagte Oxana spöttisch: „Andernfalls könnten wir uns ihn teilen, oder?“ „Oxana übertreibe nicht. Wir haben gemeinsam noch sehr viel zu besprechen“.
Die zwei ukrainischen Frauen sprachen einwandfreies Deutsch. Gäste beobachteten uns mit großem Interesse. Wir suchten ein „Eckchen“, wo wir in Ruhe reden konnten und bestellten Latte macchiato. Ich hatte nichts an diesem Tag gegessen und bestellte zusätzlich ein belegtes Brötchen mit Käse. „Hermann, du bist zu dick und solltest abnehmen, aber sicherlich nicht durch Hungern: Weniger essen und viel Bewegung“, bemerkte Irina. Ich wusste das. Die Frauen waren bescheiden und blieben bei ihrem Getränk. „Wie geht es Maria?“ fragte Irina. Ich erzählte alles, was mir so einfiel. „Ja, ich las gerade im Buch „Irina“ von deinen Großeltern Wladimir und Pelagea Sokolow. Wie geht es ihnen, wenn sie überhaupt noch leben?“ Irinas Gesicht wurde düster und traurig.
Sie erzählte mir eine so unglaubliche Story von ihnen, dass ich wie versteinert nur zuhörte und sichtlich sprachlos war:
„Die Großeltern und ich wollten meine Eltern besuchen, die sich ein Ferienhäuschen in der Nähe von Kiew gekauft haben. Unterwegs mussten die beiden austreten. Ich suchte eine öffentliche Toilette auf. Sie gingen rein und kamen nie wieder raus. Ich dachte mir ja zuerst nichts dabei und hörte die achte Sinfonie von Beethoven. Aber nach einer Weile wurde ich unruhig und ging zur Damentoilette. Ich klopfte an die Tür, weil man nur einzeln da rein durfte. Ich hörte keine Gegenreaktion. Ich brach mit einem mächtigen Stoß die Tür auf. Du kennst mich ja, wenn ich etwas Schlimmes vermute, dann werde ich ungehalten. Was ich da sah, war entsetzlich. Die Oma wurde erhängt und an ihrer Brust hing ein Zettel: „Irina, dich erwartet dasselbe Schicksal.“
Ich guckte mich draußen um: weit und breit niemand zu sehen, nur ein Auto auf dem Parkplatz in der Nähe eines Hügels. Ich rief Vater an und erzählte ihm, was mit Oma geschehen sei. Ich wusste, dass man mit dem Opa dasselbe gemacht hat. Vater sagte: „Irina, ich bin mit Freunden sofort am Ort. Inspiziere das parkende Auto. Dann melde dich wieder! Ich setze mich ins Auto.“
Ich musste mich irgendwie in den Griff bekommen, aber ich konnte nur heulen und vor Wut kochte alles in mir aber dann saß ich schon im Auto und raste in Richtung des parkenden Wagens. Zu meiner Überraschung fuhr der Wagen los. Ich sah niemand darin. Ich konnte auch niemand darin erkennen. Getönte Glasscheiben irritierten mich.
Ich begann die Verfolgung. Das Auto raste durch ein Tal und hielt auf dem Seitenweg. Als ich mich näherte, begann man auf mich mit Kalaschnikows zu schießen. Ich erkannte eine Frau auf dem Hintersitz, weil sie das Fenster herunterließ, um auf mich zu zielen. Mein Auto war durchsiebt von Kugeln und eine streifte meinen linken Arm. Das bemerkte ich kaum. Ich raste auf das Auto zu, um es zu rammen. Die Insassen fuhren aber plötzlich los. Ich hatte Opas Wagen, der immer im Handschuhfach eine zugelassene Pistole hatte. Als Kriegsveteran durfte er eine Waffe besitzen. Er war doch Held der Sowjetunion!
Ich nahm die Pistole, zerschlug das Frontglas meines Autos und schoss auf die Autoreifen meiner Widersacher. Plötzlich krachte es. Ihr Auto überschlug sich mehrmals und blieb auf dem Dach liegen. Ich näherte mich, bereit, jederzeit zu schießen. Aber keine Bewegungen waren erkennbar. Ich bückte mich und guckte ins Innere des Wagens. Es lagen zwei junge Männer und zwei Frauen darin. Ich versuchte, sie raus zu schleppen. Es gelang mir. Nur eine junge Frau atmete noch und flüsterte: „Es tut mir leid. Suchen sie die Auftraggeber beim Geheimdienst.“ Sie starb in meinen Armen. Ich war am Ende mit meinem Latein. Zum Glück war mein Vater schon da. Ich erzählte ihm alles. Es hatte für die Auftraggeber Konsequenzen, aber Oma und Opa hatten das wirklich nicht verdient.
Die Großeltern wurden mit allen militärischen Ehren beerdigt, aber unser Pastor hielt auf dem Friedhof eine wunderbare Predigt.“
Irina wischte sich die Tränen mit einem Tüchlein ab und begann, mich „auszuquetschen“. Ich war wie benommen und hörte ihre Fragen nicht.
„Irina! Der begangene Mord an deinen Großeltern macht doch keinen Sinn. Sie waren zu meiner Zeit schon so kränklich, dass ich dachte, sie werden wohl bald von uns gehen. Und was soll der Geheimdienst damit zu tun haben? Du arbeitest auf dem Gebiet der Atomenergie und der Geheimdienst ist doch vielfach daran interessiert, dich zu beschützen. Wir werden doch gerade jetzt von eurem Geheimdienst abgehört!“ Ich sah in die Richtung, wo zwei Männer uns mit Interesse, wie ich empfand, beobachteten.
„Ich weiß es. Diese Männer sind meine Bodyguards.“ Sie rief sie zum Tisch und stellte mich ihnen vor. Beide drückten mir höflich die Hand und einer sagte: „Wir wollen nicht stören. Sprecht weiter. Wir gehen mal raus, eine Zigarette rauchen“. „O.K. macht es gut Jungs“, reagierte Irina. Sie ließen uns allein.
„Ich will die Antwort auf den gruseligen Tod deiner Großeltern“, ließ ich nicht locker. Oxana mischte sich ein: „Du weißt ja, dass mein Vater am Umsturzversuch von Gorbatschow vom 18. bis 21. August  1991 beteiligt war und zusammen mit dem ehemaligen KGB-Chef Wladimir Krjutschkow, der am 23. November 2007 verstarb, im Gefängnis saß. Man hat sie zwar bald entlassen, aber den Beteiligten am Putsch ein Berufsverbot auferlegt. Deshalb ist Vater Geschäftsmann geworden. Er glaubt nicht an die Version der Ursachen des unsinnigen Mordes.
Es muss etwas im Leben von Irinas Großvater gegeben haben, das niemand je erfahren sollte. Er war Geheimnisträger und nach seiner Bekehrung zum Christentum hat man wohl angenommen, dass viele Geheimnisse in Gefahr geraten seien“. „Also doch Geheimdienst!“ sagte ich bestimmt.
„Vater muss es wissen, aber er schweigt. Ich wusste nichts und mich interessierte alles nicht. Ich war so mit meiner Arbeit und Familie beschäftigt, dass für mich die Vergangenheit ein Tabuthema war. Ich wollte alles hinter mir lassen und nach vorn schauen.
Vater sagt nur: „Wegen solcher Banalität, jemand zu erhängen, der sowieso mit einem Fuß im Grab war, ist schrecklich!“ Was er mit Banalität meint, verrät er nicht.“ „Er muss ja auch schon mit Natascha um die 90 sein?“ fragte ich „Im nächsten Jahr. Kommst Du zur Feier?“ „Irina, ich hab das Geld dafür nicht“. „O das ärgert mich, wenn ich so etwas von einem europäischen Pastor höre. Was sind das für Gemeinden, die ihre freikirchlichen Pastoren so schlecht besolden!“ „Stopp, Irina! Ich bin in Rente. Und von der Rente kann man keine großen Sprünge machen. Ich werde jedoch deinem Vater gratulieren.“
Oxana schaute mich schelmisch an „Du bist doch gekommen, meine Lebensgeschichte aufzuschreiben, oder?!
„Ja, aber Irina, du bist ja auch in Rente. Was machst du so im Alltag?“
„Ich war immer daran interessiert, Kinder aufzuklären, wie man sexuellen Missbräuchen vorbeugen kann. Ich werde von Schulen eingeladen, die Kinder aufzuklären“. Oxana lächelte. „Bitte nicht lachen, das hat dir das Leben gerettet, als du noch fünf warst.“ „Das stimmt!“ bejahte Oxana.
„Wie machst du das?“
„Hermann, ihr Männer habt empfindliche Stellen. Ein Kind kann beißen, schlagen oder sonst noch was“. „Du meinst wohl, sie sollen aus deiner traumatischen Erfahrung auch lernen? Aber fünfjährige Kinder sind doch noch so unbeholfen!“ sagte ich. „Ja, gerade deshalb. Sie haben ihre kleinen Fäustchen, mit dem sie in Krisensituationen hantieren und einen erwachsenen Mann außer Gefecht setzen können. Sie haben auch scharfe Zähnchen, mit denen sie den empfindlichen Intimzonen der Männer großen Schaden zufügen können. Und das demonstriere ich den Kindern und mache es ihnen vor.“
„Wow!“ staunte ich: „Wir haben in Deutschland Christen, die wegen Sexualunterricht an Schulen zu Schulverweigerern geworden sind und dafür mit hohen Bußgeldern bestraft werden“.
„Ich weiß ja nicht, was an euren Schulen unterrichtet wird, aber wer ein Kind nicht rechtzeitig aufklärt, kann es zu einem geistigen Krüppel machen. Ob das nicht gerade der Grund ist, dass so viele Ehen nicht funktionieren? Und warum heiraten christliche Mädchen schon mit 17 und 18? Sie können mit ihrer Sexualität nicht umgehen oder leben in Angst, keinen Mann zu bekommen. Das ist skandalös.“
„Das weiß ich nicht. In den sowjetischen Schulen hatten wir Anatomie unmittelbar vor dem Abitur und siehe da: Du, ich und andere sind immer noch glücklich verheiratet“, konterte ich.
„Gut, Hermann, lassen wir diese Diskussion. Ich lasse dich mit Oxana alleine. Ihr habt heute noch drei Stunden für die Unterhaltung, morgen kommen wir zu deinem Übernachtungsort zum Bibelseminar Kiew, es ist in der Siedlung Irpensk nahe Kiew gebaut worden, und da werdet ihr stundenlang reden können. Du kannst dort deine Zeit mit Schreiben oder mit Gesprächen mit der zwanzigjährigen Köchin Inna Samus totschlagen. Das Mädchen ist sehr klug und intelligent und sollte weiter studieren.
Jetzt bin ich weg und gehe mit meinen Jungs einkaufen. Ja, Sascha konnte nicht mit: Er leitet heute einen Gottesdienst außerhalb von Kiew. Meine Eltern, mein Sascha und meine Kinder lassen dich grüßen“. Sie stand auf, gab ihren Männern ein Zeichen, uns ein Luftküsschen und verschwand, um in drei Stunden wieder aufzukreuzen und Oxana abzuholen.
Oxana und ich saßen uns nun zu zweit gegenüber und sie begann mit Bedingungen: „Hermann, ich wünsche keine Besuche von westlichen Lesern deines Buches. Irina musste regelrecht untertauchen, um sich von ihnen zu befreien. Ich versprach ihr das und sagte: „Das mit Irina ist wirklich meine Schuld. Ich verriet ihren richtigen Namen und Adresse einem dänischen Professor, der mir versprach, sie an niemand weiterzugeben. Er hat sein Wort nicht gehalten. Deshalb waren Sascha (Alexander) und Irina auf mich jahrelang sauer. Ich hab das mit Nikitins geregelt, aber daraus sehr viel gelernt“.
Oxana begann aus ihrem Leben zu erzählen und ich notierte mir die wichtigsten Ereignisse, die ich noch nicht kannte. Ihr Leben war eng mit meinen Freunden Irina und Sascha Nikitin verbunden, deshalb kommen sie auch in diesem Buch vor.
Es folgt eine abenteuerreiche Biografie einer Frau und von vielen anderen außer ihr, die möglicherweise auch von den Lesern als eine packende Lektüre empfunden werden wird.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

„Lustknaben und Knabenschänder“: 1Kor. 6,9 im Kontext der Umwelt“

Интеграция и независимость русско-немецких общин Германии на пути к их самоидентификации