Einblicke in mein Leben
Einblicke in mein Leben
Aggression und Zweifeln
Anfang November 2011 saß ich nach achtstündigem Unterricht in
Nordkaukasus völlig erschöpft im Sessel meines Zimmers Visavis, das heißt
gegenüber, einem Studenten. Dieser erzählte mir die Geschichte von der Geiselnahme
in seiner Heimatstadt Beslan, die am 1. September 2004 stattgefunden hatte.
Eltern und Kinder feierten damals die Eröffnung des Schuljahres, währenddessen
brachten tschetschenische Terroristen die anwesenden 1127 Kinder und Erwachsene in ihre Gewalt. Nach etwa
30 Stunden stürmten russische Sicherheitsbeamte die Schule und richteten ein
unerhörtes Blutbad an. Man beklagte weit über 300 Opfer und unter denen waren
auch Verwandte des Studierenden.
Ich sah, wie schwer es dem Erzähler fiel, darüber zu
sprechen. Ich hatte aber den Eindruck, dass er sich alles von der Seele reden
wollte. Er, als einer der Pastoren im aktiven Dienst vor Ort und dreifacher
Vater, begann während der Erzählung plötzlich zu schluchzen, stoßweise zu atmen
und zu weinen. Ich setzte mich auf die Lehne seines Sessels, umarmte ihn und
schwieg. „Ich habe meine Nichten und Neffen verbluten sehen und konnte mich
nicht ihnen nähern und Hilfe leisten wegen des Kugelhagels.“ Seine Stimme klang
klagend und anklagend, als wenn er sagen wollte: „Warum hast Du, lieber Gott,
nicht interveniert?“ Nachdenklich provozierte ich ihn: „Sprich aus. Sag dem
lieben Gott, dass er dir zu fern war, um helfen zu können. Sag doch alles, was
Du gerade empfindest“. Er befreite sich von meinem rechten Arm, stand auf und
sagte mit eisiger Stimme: „Ich habe damals den Glauben an Gott verloren!“ Ich
stellte mich ihm gegenüber und rezitierte ein Gedicht aus der Lyrik von LaFee,
die Aggression und Kummer ausdrückt. Das Gedicht wurde in der Presse eher
kritisch als positiv bewertet. „Lieber Gott hörst du mich? Warum hilfst du uns
nicht? Lieber Gott lässt uns allein und die ganze Erde weint. Lieber Gott wo
bist du? Warum siehst du uns nur zu? Lieber Gott sage es mir, was wird, wenn
jede Hoffnung stirbt. Sag mir warum, sag mir, wofür jeden Tag so viele Menschen
ihren Glauben verlieren. Komm endlich zurück, egal wo du bist, weil es ohne
dich bald zu Ende ist. Lieber Gott hörst du mich? Warum hilfst du uns nicht?
Lieber Gott lässt uns allein und die ganze Erde weint. Lieber Gott wo bist du?
Warum siehst du uns nur zu? Lieber Gott sage mir, was wird, wenn jede Hoffnung
stirbt. Sag mir warum, sag mir wofür. Sag mir lieber Gott, warum bist du nicht
hier. Wir bringen uns um, deine Macht zerbricht. Lieber Gott, warum hilfst du nicht?
Lieber Gott hörst du mich? Warum hilfst du uns nicht?“ Meine spontane
Übersetzung des Gedichts in Russisch war wohl nicht ganz korrekt, stimmte aber
sinngemäß. Das „Idol“ der Teenager hat es, wie in vielen Psalmen nachzulesen,
auf den Punkt gebracht. Wie oft schien Gott den Dichtern der Psalmen so fern zu
sein.
„Haben Sie als Theologe auch Zweifeln am lieben Gott
geäußert? Verzweifeln Sie unter Umständen auch an den lieben Gott?“, fragte der
Trauernde. Ich dachte nach und sagte zögerlich: „Zweifeln gehören wohl zum
Metier der Theologen. Zweifel ist, mein Lieber, der Zustand der
Unentschiedenheit. Man schwankt halt zwischen mehreren Denkmotiven. Du hast im
Unterricht gesagt, dass Du an die Evolutionstheorie festhalten möchtest und sie
nicht ablehnst, wie einige Christen aus deinem Umfeld es tun. Gott hätte vor
Milliarden von Jahren lebende Organismen gewollt und so entstand letztlich
draus ein höheres Wesen, nämlich der Mensch. Du glaubst auch wie Friedrich
Nietzsche, dass der Mensch sich zum Übermenschen entwickeln wird. Andere haben
dir vehement widersprochen und glauben an den biblischen Schöpfungsbericht. Du
hast wohl absichtlich alle provoziert und verärgert. Ich aber schwieg und hörte
mir in der Pause an, wie die Studierenden über dein Denkmodell heiß
diskutierten. Eure Denkmodelle sind total unterschiedlich, aber ihr sieht die
Bibel dennoch als Richtschnur für das Leben und die Praxis der Christen. Ihr
denkt alle sehr unterschiedlich. In der Tat, wer sich dem Denkmodell der
Entwicklungstheorie anschließt, kommt auch nicht ohne Weiteres an Nietzsche
vorbei. Warum muss man, frage ich mich, das eigene Denkmodell anderen aufzwingen?
Denn letztlich könnte es drauf ausgehen, alle hatten recht und niemand wusste
Bescheid oder? Warum nicht bei der frohen Botschaft bleiben und Sorge tragen,
dass Menschen Christus ähnlich leben? Sogar Nichtchristen und Atheisten
bewundern Jesus Christus. Warum denn nicht gerade wir?“
Er sah etwas betreten aus. „So, es ist Zeit für dich schlafen
zu gehen“, meinte ich. Er guckte mich nachdenklich an und sagte: „Ich muss
frische Luft schnappen, spazieren gehen und über alles nachdenken.“ Wir
verabschiedeten uns.
Es war 00.30 Uhr. Ich zog den Schlafanzug an, putzte die
Zähne und wollte ins Bett. Es klopfte an der Tür. Wer soll noch zu später
Stunde bei mir anklopfen? Ich öffnete die Tür. Noch ein Student. „Nur paar
Minuten, bitte!“, bettelte er. Sehr erschöpft von dem ganzen Tag nickte ich und
bat Platz zu nehmen. Aus paar Minuten wurden paar Stunden. Am nächsten Tag saß
ich vor den Studenten und unterrichtete weiter. Es ging um das Thema: „Die
Pathologie des Sexualverhaltens“. Mein erster Gesprächspartner von gestern war
wie ausgewechselt; fröhlich erzählte er
allen über unser Gespräch und entschuldigte sich, dass er alle stets mit Provokationen
überlagerte und überforderte.
Übrigens, die Provokationsmethode kann für die Didaktik auch
nützlich sein. Ich hatte im Kaukasus acht Stunden täglich zu unterrichten, aber
ich war aufgrund von vielen Unterhaltungen bereits überanstrengt und schlapp.
In der Pause rief ich meine Frau in Moskau an, die ich nicht mit nach Kaukasus
nahm, und sagte ihr, dass bei mir alles gut wäre. So ging es Tag für Tag, bis
ich endlich total erschöpft nach Moskau zurückkam, meine Frau in die Arme
schloss und am 6. November 2011 Moskau mit ihr verließ.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen