Was nun? Dilemma nach dem Treffen mit Nikolai Gribenko in Nordkaukasus


Was nun?

Unterwegs erzählte ich meiner Frau über meine Begegnung mit Nikolai Taranin. Er rief mich aus Sotchi an und meldete, er würde demnächst mit seiner Frau vorbeikommen. Sotchi ist bekanntlich einer der beliebtesten Bade- und Kurorte Russlands und das Ehepaar Taranin floh aus der lauten Metropole Moskaus, um in Sotchi zu überwintern. Nach dem Unterricht verzichtete ich gewöhnlich auf Abendessen und nutzte die Zeit, um auf dem Bett meines Zimmers zu entspannen. Gewöhnlich erschien nach 19 Uhr einer der Studenten ohne Anmeldung und bat um ein Gespräch. Um diese Zeit erwartete ich niemand etwas ausruhen.

Meine „Entspannung“ wurde durch leises Klopfen an meiner Zimmertür unterbrochen. Ich stand auf und öffnete die Tür. Es war Nikolai Taranin, Oxana Nikitins Vater. Spontan umarmten wir uns. Ich schloss die Tür hinter uns ab. Ich wollte nicht gestört werden. Taranin setzte sich auf den alten Sessel, der neben meinem Bett stand, und sprang plötzlich auf. Verwundert guckte ich ihn an. „Mist! Dieser Sessel ist doch eine Folter für Männer wie wir beide,“ meinte empört. Er und ich hatten Rückenleiden, aber es gab sonst in meinem Zimmer nur einen wackeligen Stuhl und das Bett, auf dem ich saß. Ich bot ihm den Stuhl an. Er guckte sich im Zimmer um. Auf dem Fußboden sah man zertretene Kakerlaken, Ameisen, Kaukasuskäfer, Ohrenschlüpfer unter anderen mehr. Die Letzteren machten mir Angst. Sie könnten beim Schlafen in die Ohren oder in den offenen Mund kriechen, vermutete ich. Die Gäste vor mir zertraten sie, bevor sie ins Bett gingen. Ich steckte nachts Watte in meine Ohren und legte mein Handtuch auf den Mund. Es ging bis dahin recht gut so.
Nikolai ekelte sich: „Wie kannst Du in einem solchen Zimmer schlafen?“ „Man gewöhnt sich an allem, Nikolai. In den sowjetischen Straflagern war es viel schlimmer.“ Er schüttelte den Kopf und nahm sein Mobiltelefon in die Hand, wählte eine Nummer und verließ das Zimmer. Nach mehreren Minuten kam er wieder: „Komm. Lass das Zimmer offen. Es wird von meinen Leuten gesäubert, geputzt und desinfiziert. Ich habe für unser Gespräch ich ein anderes Zimmer gefunden, indem wir ungestört reden können.“ Ich zuckte die Schulter und folgte ihm. Unterwegs murmelte er: „Eine solche Schweinerei. Wie kann man nur mit Gastdozenten so umgehen“. Ich dachte jedoch: „Du hast ja kaum eine Ahnung, in welchem Zustand andere Zimmer sind, in den die Studenten schlafen.“ „Nein, nein! Ich weiß, was Du denkst. Sie schlafen Etagen höher und haben nichts mit kriechenden Insekten zu tun!“ Rief er laut aus, ohne zu wissen, was in meinem Hirn vorging. Wir kamen in ein helles Zimmer, in dem eine Couch, mehrere Sessel und ein Tisch standen. Wir nahmen Platz.
Er guckte mir lange in die Augen und sagte: „Warum bist Du ohne deiner Frau Maria nach Kaukasus gereist? Du bist ohne sie aufgeschmissen. Wie konntest Du nur? Du konntest doch nie für den eigenen Komfort sorgen und warst in jeder Situation stets mit allem zufrieden. Das geht doch nicht. Du hast das Recht zu reklamieren. Die Gastgeber wissen nicht einmal, wie es dir im Zimmer geht.“ „Nikolai, bitte. Du hast den weiten Weg doch nicht wegen meiner Unterbringung gemacht. Lass uns über wichtigere Dinge sprechen. Wo ist deine Frau Natascha? Ich hätte sie so gern in die Arme genommen und gedrückt“. „Die Gelegenheit bekommst Du noch. Du weißt den Grund, warum ich da bin. Hast Du meine Tagebücher alle durchgelesen?“ „Ja. Ich verwendete einige Passagen aus deinen Tagebüchern für das Buch ‚Oxana’, das gerade erschienen ist.“ „Hast du einen Fragekatalog erstellt?“ Nach meiner Verneinung fuhr er fort: „Hast Du irgendwelcher Art von Fragen in Bezug auf meine Tagebücher?“ „Bekomme ich auch eine authentische Antwort auf die Fragen? Du bist ein ehemaliger sowjetischer Spion und wirst mir so oder anders niemals die ganze Wahrheit sagen. Das erwarte ich nicht. Soll ich deine Tagebücher in Form eines literarischen Werkes bearbeiten oder eine authentische Biografie schreiben? Im letzten Fall muss ich deinen echten Namen benutzen. Andererseits bin ich nicht sicher, ob ich überhaupt deinen Geburtsnamen kenne. Ihr Spione ward und bleibt für mich ein Rätsel“. Er lächelte vor sich hin und schwieg.

„Besucht ihr in Sotchi die Baptistenkirche?“, unterbrach ich das Schweigen. „Doch, doch. Nur man muss bedenken, ich bin bereits 91 und manchmal möchten wir nur zu zweit die Bibel lesen und beten, anstatt einen Gottesdienst zu besuchen. Ich bin wahrscheinlich zu anspruchsvoll, was Predigten betrifft. Der Chor ist in der Gemeinde exzellent, die Jugend sehr aktiv.“ Er schwieg wieder und musterte mich an.

„Dein prüfender Blick will mir etwas sagen, nicht wahr?“, fragte ich. „Hm. Wie hast Du die Tagebücher empfunden?“ „Ich schreibe ja auch Tagebücher, aber Du hast versteckte Botschaften hier und da versteckt, die wohl an deine Kinder erinnern sollen. Es sind viele Andeutungen, die nur Du verstehst. Du hast mir eine Kopie deiner Schriften auf eine CD brennen lassen. Ich bin nicht sicher, ob alles vollständig vorhanden ist. Dennoch lässt sich von dem, was mir vorliegt, eine Romanbiografie kreieren, aber keine Biografire. Ich weiß ja sonst viel über dich, von deinen Kindern und verstorbenen Großeltern. Meine Güte, Nikolai, die zeit unseres Lebens ist doch sehr begrenzt. Wir haben die Eltern von Irina Nikitin nicht mehr unter uns und eines Tages sind wir so weit.“ Ich wollte ihm nicht sagen, dass er unter Umständen bald sterben könnte. „Deine ausgeprägte Melancholie, Hermann, gefiel mir nie. Meine Devise ist: Heute leben wir, heute denken wir und heute planen wir. Wenn die Stunde schlägt, gehen wir. Genieße jeden Augenblick deines Lebens und freue dich mit deiner Maria, zusammen bis zum letzten Atemzug zu sein. Ich bin doch glücklich, oder?“ Ich nickte. „Die vielen Aufgaben und die Arbeit hat noch niemand geschadet und zum Burn-out-Syndrom geführt. Es ist der innere Stress, der Menschen in die Depressionen stürzt. Ich bin gern acht oder auch zehn Stunden beim Arbeiten. Es erfüllt mich. Lerne bitte, alles mit Freude und nicht unter Zwang zu machen.“ Sein Mobiltelefon klingelte. Er nahm es in die Hand und sagte zu mir: „Wir können zurück in dein Zimmer.“

Ich staunte nicht wenig, als ich sah, wie blitzeblank alles geputzt und gesäubert wurde. Es roch etwas nach Desinfektionsmitteln. Es war aber erträglich. Zwei Stühle und andere Sessel standen in der Nähe meines Betts. Von Ungeziefer keine Spur. „Danke, Nikolai!“ Ich drückte ihm die Hand. Er schmunzelte: „Muss ein alter Mann wie ich dafür sorgen, dass du es gemütlich hast?“ Wir sprachen bis Mitternacht. Nikolai empfahl mir zuerst, eigene autobiographische Notizen zu machen und erst dann an seinem Buch zu arbeiten. „Ich möchte, Hermann, nicht, dass meine Lebensgeschichte zu meinen Lebenszeiten erscheint.“ Ich nickte. Wir gingen raus. „Wo ist deine Frau?“ „In der Limousine“. Natascha schlief bereits, als wir ankamen. Sie wachte aber sofort auf, als Nikolai die Tür öffnete. Sie sprang auf und verließ den Wagen. Der Mond und die Sterne waren die einzigen Lichter, sonst gab es entlang der Straße keine Beleuchtung. „Warum hat Maria mich im Auto nicht besucht? Ich wartete die ganze Zeit auf sie. Wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht?“ Ich hatte kaum Gelegenheit für ausführliche Erklärungen. „Ich wollte ihr die Strapazen der Reise ersparen und ließ sie in Moskau zurück“, reagierte ich. Die folgende Litanei war nicht sehr angenehm. Sie fiel mir um den Hals, küsste mich und weinte. Das Letztere war ein Rätsel. Nikolai reagierte lächelnd: „Na ihr zwei, glaubt ihr nicht gleich Abschied zu nehmen? Ich könnte ja eifersüchtig werden. Ihr seid immerhin gleich alt“. „Ach, hör auf Nikolai! Wir haben uns so lange nicht gesehen, da darf man doch auch sentimental werden,“ reagierte Natascha. Der Chauffeur wartete geduldig am Steuer. Irgendein Mann mit dunkler Brille, und das nachts, saß neben ihn und rührte sich nicht von der Stelle. „Wie kommt ihr so spät nach Sotchi?“, fragte ich verwundert. Nikolai erklärte: „Außerhalb der Stadt wartet ein Militärhubschrauber, der uns in unsere Bleibe bringen wird.“ Nach russischer Art küssten beide mich und setzten sich ins Auto. Es bewegte sich beinahe geräuschlos, ich winkte den beiden zu, bis die Lichter nicht mehr zu sehen waren.

Was nun, Hermann? Fragte ich mich. Mit dieser geschwängerten Frage begab ich mich auf mein Zimmer. Ich stand wie auf einer Kreuzung, ohne Orientierung, ohne zu wissen, was ich demnächst schreiben oder tun sollte.

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